Stellen wir uns vor, es ist 1741 und wir leben in der Stadt Plymouth, in einem der drittwichtigsten Häfen der Royal Navy. Die Stadt ist nicht nur ein bedeutender Militärhafen, sondern auch ein zentraler Knotenpunkt für Handelreisen und dem Schiffsbau. Von hier aus starten Expeditionen und Seefahrten, die Ziele in Südamerika, Indien und Asien ansteuern. Zudem werden die Schiffe für ihre 2- bis 4-monatigen Reisen gewartet, mit allem notwendigen Material ausgestattet und für ihre langen Fahrten vorbereitet.
In den Jahren 1739 und 1740 hatte der War of Jenkins‘ Ear zwischen Großbritannien und Spanien begonnen. Die Spannungen zwischen den beiden Ländern eskalierten, besonders als Spanien begann, britische Schiffe und Händler anzugreifen. Daraufhin wurde der Krieg erklärt, und unter Kommodore George Anson wurde ein Verband von sieben Schiffen zusammengestellt, der gezielt militärische Angriffe auf spanische Schiffe und Städte entlang der südamerikanischen Küste durchführen sollten.

In dem Buch von David Grann, „Der Untergang der ‚Wager’“, erfahren wir von einer wahren Geschichte, deren Handlung sich um Schiffbruch, Mord und Meuterei dreht. Es wird die erschütternde und packende Geschichte einer Schiffsreise erzählt, die sich über einen achtmonatigen Höllenritt von Plymouth über das Kap der Guten Hoffnung, die Philippinen und bis nach Chile erstreckte. Der Roman basiert auf wahren Begebenheiten und gewährt uns einen tiefen Einblick in die düstere Realität der damaligen Zeit. Wir werden in die Welt des 18. Jahrhunderts entführt, in der die Weiten des Ozeans und die ständige Bedrohung durch feindliche Nationen das Leben der Seeleute bestimmten.
Die Wager war eines der Schiffe, die Teil der Expedition unter Kommodore George Anson waren. Die Reise begann mit erheblichen Schwierigkeiten: stürmische See, Krankheiten und dramatische Vorratsengpässe. Doch das wahre Drama nahm seinen Lauf, als das Schiff schließlich an der Küste Chiles strandete. Nur eine Handvoll Männer überlebte das Unglück.
In der Isolation und Verzweiflung, die auf den Überlebenden lasteten, eskalierte die Situation zunehmend. Hunger, Krankheit und Verzweiflung setzten den Männern zu, während sie auf einem abgelegenen Strand ums Überleben kämpften. Der Überlebenskampf wurde zur obersten Priorität, und unter diesem Druck zerbrach der moralische Kompass vieler Seeleute. Die extremen Bedingungen führten dazu, dass viele ihre Menschlichkeit verloren und zu unvorstellbaren Maßnahmen griffen, um zu überleben.
Schließlich eskalierte die Situation zu einer Meuterei, die eine der zentralen Fragen der Geschichte aufwarf: Was sind Menschen bereit zu tun, um zu überleben, und wie weit kann die menschliche Moral unter extremen Bedingungen gedehnt werden?
Der Autor lässt den Leser an den erbarmungslosen Entscheidungen der Männer teilhaben, die aus der Not heraus handeln mussten. Es wird nicht nur das katastrophale Scheitern der Expedition beleuchtet, sondern auch die psychologischen und moralischen Dilemma, mit denen die Überlebenden konfrontiert waren. Was sich als bloße Überlebensgeschichte liest, wird schnell zu einer tiefgründigen Auseinandersetzung mit dem menschlichen Wesen, das in extremer Not auf sich selbst zurückgeworfen wird.
Der Roman ist meisterhaft in seiner Darstellung der rauen Realität des Lebens auf See, der Verzweiflung und der kompromisslosen Entscheidungen, die die Seeleute treffen mussten. Durch die Erzählweise wird dem Leser deutlich, wie dünn der Schleier zwischen Zivilisation und Wildheit in extremen Situationen ist. Was als klassische Geschichte von Abenteuer und Krieg beginnt, verwandelt sich in eine düstere Reflexion über die dunklen Seiten der menschlichen Natur und die Herausforderungen des Überlebens in einer feindlichen Welt.
Es werden nicht nur die Dramatik und die Gefährlichkeit der damaligen Seefahrten eingefangen, sondern auch die sozialen und politischen Strukturen beleuchtet, die zu diesen extremen Situationen führten. Die Rekrutierung der Mannschaften, die harte Disziplin an Bord und die endlosen Gefahren, denen die Seeleute ausgesetzt waren – all dies wird lebendig und lässt uns den historischen Kontext und die Verhältnisse der damaligen Zeit besser verstehen.
Die Geschichte der Wager ist mehr als nur ein Abenteuerbericht. Sie ist ein erschütterndes Beispiel für die menschlichen Abgründe, die in extremen Notlagen zutage treten können, sowie für die moralischen Entscheidungen, die Menschen treffen, wenn das Überleben auf dem Spiel steht. Der Autor gelingt es, all diese Themen auf eine fesselnde und zugleich nachdenklich stimmende Weise zu vereinen. Die Geschichte der Wager bleibt ein faszinierendes und düsteres Kapitel der maritimen Geschichte – ein eindrucksvolles Zeugnis des menschlichen Überlebenswillens und der Tragödien, die mit der Erkundung und Kriegsführung auf den Weltmeeren verbunden waren.
Ein guter Tipp: Wer das Buch beim Frühstück oder Mittagessen liest, sollte einen robusten Magen haben, denn einige Passagen sind wirklich nichts für schwache Nerven. Aber trotz der intensiven und oft extremen Schilderungen der Situationen und der moralischen Dilemma ist das Buch kürzer, als man vielleicht erwartet. Rund 80 Prozent des Textes widmet sich der eigentlichen Geschichte, während die restlichen 20 Prozent auf Quellenangaben, Bildmaterial und Anmerkungen entfallen. Das macht das Werk kompakter und konzentrierter, als man auf den ersten Blick denken könnte. Mir hat das Buch gefallen, aber das Ende kam irgendwie abrupt. Ich hätte mir ein befriedigenderes Ende gewünscht. Für alle, die gegen die harschen Bedingungen des Buches gewappnet sind, ist es jedoch uneingeschränkt zu empfehlen.
Buchinformation
Der Untergang der „Wager“
David Grann
C. Bertelsmann
2024
ca. 432 Seiten
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